Die Niedersächsin verlässt ihre Scholle

Nun war sie schon etliches über vierzig und hatte mit dem Begriff Heimat bisher wenig bis nichts anfangen können. Heimat… das roch irgendwie muffig. Heimat war etwas, was man besser nicht hatte. Jedenfalls, wenn man eine Deutsche war. Heimat war anrüchig, nazi-verdächtig, reaktionär. Heimat hörte sich für sie nach Heimatverein an, noch rechts neben Kaninchenzüchtern. Heimat war bestenfalls etwas, wo man geboren war, das man sich aber nicht hatte aussuchen können. Darum war sie auch immer davon überzeugt gewesen, dass sie irgendwann mit Leichtigkeit ihre Heimatstadt verlassen könnte. Und nun war es so weit. Sie zog, der Liebe wegen, nicht mit Mann und Maus, dafür aber mit Kind zu Mann, ins Hessische. Fast ein Jahr lang war sie gependelt und fühlte sich sicher, dass dieser Schritt eine gute Entscheidung war. Nicht nur des Mannes wegen, sondern auch wegen der Gegend. Diese zeichnete sich durch jede Menge Wald aus, liebliche Quellen, uralte Bäume, sich immer wieder überraschend öffnende Ausblicke auf Täler. Also eigentlich perfekt.

Mit vollgeladenem Auto fuhr sie nun also auf der A7 gen Süden. Kurz hinter dem Dreieck Drammetal erwischte es sie: „Auf Wiedersehen… Niedersachsen“. Dutzende Male war sie fröhlich an diesem Schild vorbeigefahren aber jetzt zog es ihr gerade den Boden unter den Füßen weg. Heimatlos. Von einer zur nächsten Sekunde. Am liebsten wäre sie direkt umgekehrt. Aber das ging nicht. Entscheidung war Entscheidung. Die Tränen schossen ihr aus den Augen. In den verbleibenden Stunden bis zum Zielort rang sie um Fassung. Auf gar keinen Fall wollte sie sich ihren Schmerz anmerken lassen. Zu groß war die Verantwortung für ihr Kind, das sich mit der Vorstellung der Umsiedelung so schwer getan hatte. Endlich waren sie zusammen in Neugier und Vorfreude angekommen. Das durfte sie nicht erschüttern. Zum Abendbrot würde ihr niemand mehr etwas anmerken, das schwor sie sich.

Dies ist die sechste ABC-Etüde dieses Monats auf Basis der Wortspende von puzzleblume, angeregt durch den Austausch mit Werner unter diesem Beitrag. – Jou… ganz schön viele Links in einem Satz. *lach*

Ich wünsche Euch einen sonnigen Wochenausklang!

13 Gedanken zu “Die Niedersächsin verlässt ihre Scholle

  1. Die negative Besetzung des Begriffs „Heimat“ hat die Generation der Boomer
    wahrscheinlich mehrheitlich verinnerlicht. Vielleicht ist es für manche deshalb ein namenloses, fast wortloses Gefühl, wenn es ihnen beim Verlassen von vertrauten Lebenumständen und Umgebungen begegnet.
    Faszinierend, was dieses Wörtchen „heimatlos“ Gedanken aufrührt und in Geschichten und Kommentaren ablesbar bewegt, weil das Abgleichen mit anderen teilweise wohltut und dann doch wieder befremdet, weil die Unterschiede des Empfindens so fein abschattiert sind, dass man selten ganz einig darin ist.

    1. Ich finde das auch sehr spannend. Manchmal auch anspannend *schmunzel*. Ich konnte wieder einmal beobachten, wie ich auf ein ‚wir‘ spröde bis abwehrend und sogar innerlich ärgerlich reagiere, wenn ich mich vergesellschaftet wähne und ein klares „Nö. Zu diesem ‚Wir‘ gehöre ich so richtig GAR nicht!“ in mir spüre. Da darf ich noch Gelassenheit üben.

      1. Da ich auf solche vereinnahmenden sprachlichen Formen allein schon wegen des Ansinnens stachelig reagiere, noch bevor ich über den Inhalt richtig nachgedacht habe, ist das für mich total nachvollziehbar. Da ist es gut, die schriftliche Form vor sich zu haben und keinen Videocall, um in Ruhe die Form vom Inhalt zu trennen zu versuchen und neu zu bedenken. Manchmal gelingt es, oft aber auch nicht.

  2. Spannend, dein Dialog mit Werner! 👍
    Als ich deine Etüde gelesen habe, schoss mir allerdings nicht „heimatlos“ durch den Kopf, sondern der Verlust der vertrauten Umgebung und die damit verbundene Angst vor dem Neuen, die ich im Übrigen für völlig normal halte, selbst wenn man dort, wo es hingeht, geliebt und erwartet wird. Verlust ist Verlust. Ich bin rückblickend heilfroh, als Kind nicht umgezogen zu sein.
    Danke dir für die Etüde.
    Frühabendgrüße ☁️💻🍵🍪

    1. Ist es nicht erstaunlich, wie unterschiedlich wir Menschen so sind? Angst vor Neuem ist mir zwar nicht unbekannt aber im Vordergrund hat sie noch nie gestanden. In diese Angst mischt sich bei mir ganz schnell ein Stück Abenteuerlust und dann ’spring‘ ich eben.

      Wenn ich irgendetwas zutiefst bedauere, dann tatsächlich, meinem Kind die Entwurzelung zugemutet zu haben. Er hat sich am neuen Ort zwar gut eingelebt und auch Freunde gefunden, denen er bis heute die Treue hält… aber Heimat ist es nie für ihn geworden. Mit 17 hat er es dann nicht mehr ausgehalten und wollte wieder ’nach Hause‘. Und das, obwohl er mit Sicherheit wusste, dass dort neue Schwierigkeiten auf ihn warteten. Ist halt auch ein „Schollentyp“ 😉

      1. Ich wusste, seit ich zum ersten Mal den Fuß / den Reifen nach Norddeutschland gesetzt hatte, dass ich es hier oben toll finden würde. Ich kenne das Gefühl, dass es einen irgendwohin zieht … 🤔😉

  3. Als Niedersachse habe auch ich tatsächlich meine „Scholle“ in Delmenhorst verlassen und wohne jetzt mittlerweile seit Jahrzehnten in Hessen und winke Cynthia seit ein paar Wochen von hier aus den ABC-Etüden zu.
    Im klassischen Sinne habe ich damit meine Heimat verlassen, aber wie man nachverfolgen kann, sehe ich das anders. Und klar: das ist immer eine GANZ PERSÖNLICHE Sichtweise, die sich durch eigenes Erleben so herausgebildet hat und durch die Ablösung von kollektiven Mustern.
    Um die Entscheidung von Cynthias Sohn herauszugreifen: mein ältester Sohn ist schon längst in den Süden Deutschlands weggezogen, während mein jüngster Sohn nicht dazu bewegen wäre, hier aus der hessischen Wetterau wegzuziehen. Also auch innerhalb der Familie verschiedene Denkmuster.

  4. Niedersachsen gegen Hessen … also da wäre mir nie in den Kopf gekommen, dass es sich um einen schwierigen Abschied handeln könnte. Aber klar, es sind die Freunde, die eigenen und die des Kindes, die gewohnten geliebten Orte, selbst die ungeliebten … alles das ist nun weg. Insofern ist es nicht völlig anders als ins Ausland zu ziehen.

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