Hui-Buh hinterm Deich

Vor einigen Jahren war sie hierher gezogen. In eine eigentlich für sie zu kleine Wohnung. Aber es war halt das, was sie sich so gerade leisten konnte. Sie war hell und freundlich, in einem ruhigen Haus und in für sie idealer Lage, da sie am liebsten alles zu Fuß erledigte. Als es um die Entscheidung ging, ob sie die Wohnung nehmen sollte, hatte ihre Freundin zwei Dinge zu bedenken gegeben. Das erste war, dass sie bei einem möglichen Deichbruch all ihr Hab und Gut als verloren geben müsste (was sie nicht sonderlich juckte, da es eh nicht mehr viel war). Das zweite war, dass sich eine Tierarztpraxis in unmittelbarer Nähe befand und die Freundin zu berichten wusste, dass er, wenn er ein Tier einschläferte immer ein Fenster öffnete, um die Tierseele gehen zu lassen. Dieses Fenster läge in direktem Gegenüber zu ihrem Schlafzimmer und sie wäre ja etwas feinspürig veranlagt…

Sie nahm die Wohnung und einige Seelen zogen über die Jahre sanft durch ihre Höhle und gingen wieder. An manchen Tagen war sie dankbar für den Hinweis ihrer Freundin. Tage, an denen ein Etwas spürbar für sie war, sich in ihren Räumen eine Wesenheit verfing. Ein Geist der Schmerz, Traurigkeit und herbe Bitterkeit mit sich brachte. Wenn sie seiner gewahr wurde, erlaubte sie ihm, sich für eine kleine Zeit bei ihr unterzustellen, auszuruhen. Sie schenkte ihm, dass sie ihn spürte. Ein ‚ich sehe dich‘ und ein ‚Danke, dass Du da warst‘. Oft war es das, was es brauchte, um mit Leichtigkeit gehen zu können. Dann wurde auch ihr Herz leicht und sie spürte eine leise Sehnsucht, dass es eines Tages auch für sie jemanden gäbe, der ihrer Seele diesen Dienst täte, falls es nötig wäre.

Dieser Text ist verknüpft mit den ABC-Etüden, diesmal nach eigener Wortspende, bei Christiane von Irgendwas-ist-immer. Häufig werden mir Dinge erst im Nachhinein bewusst… möglicherweise sind es auch nur erklärende Geschichten, die mein Kopf sich erfindet, um die Dinge in der Welt zu verorten. Vielleicht ist es auch etwas von allem. Ich war gestern auf einer Trauerfeier, die mich mit dem Sterben intensiv in Kontakt brachte. Gestern Abend fiel mir dann auf, dass es auch ziemlich genau vier Jahre her ist, dass ich meinen vierbeinigen Gefährten vom Leben in den Tod begleitete. Da kommt sicherlich in mir gerade viel zusammen. Das obige Bild ist ein neurographischer Baum der Dankbarkeit, den ich mit dem Stift pflanzte. Er steht für all die Zeit, die ich mit Tolstoi (der Name meines wundervollen Halbdackels) hatte, die Erlebnisse und Liebe, die wir geteilt haben. Irgendwo müsste ich noch einen Artikel dazu haben, den ich für die Empathische Zeit schrieb. Ich werde ihn mal suchen gehen.

Das Bild habe ich gerade aus seinem von irgendwelchen Tierchen zerfressenen Rahmen geholt und gesäubert. Es lag jetzt eine längere Zeit auf dem Schrank, weil es für mich so schmerzhaft gewesen war zu sehen, wie es mit einem seltsamen Bröselschmutz von hinter der Scheibe überzogen war. Nun darf es einen neuen Rahmen bekommen und mich wieder begrüßen, wenn ich nach Hause komme. Oder… noch besser… nachts über meinem Kopf wachen, falls mal wieder Besucher kommen, die ich schlafenderweise nicht gleich mitbekomme.

Ein nachdenkliches Hui-Buh in die Runde und ein angenehmes Wochenende!

9 Gedanken zu “Hui-Buh hinterm Deich

  1. Ach, Cynthia, das berührt mich gerade sehr. Bei mir jährt sich heute auch ein wichtiger lange zurückliegender Todestag.
    Finde ich schön und sehr liebevoll, was du da berichtest.
    Danke dir!
    Morgenkaffeegrüße 🌧️☁️🌳☕🍪

  2. Anrührende Geschichte und diese Zeichnungen beeindrucken mich immer wieder. Eigentlich ist es ein bisschen schade, dass du für die Tiefe einen etwas zu albernen Titel gewählt hast, um der Gefühligkeit Herrin zu werden, wie ich vermute.

    1. Wenn Du einen Alternativvorschlag hast, immer heraus damit! Ich komme mit meinen Gefühlig- und Spürigkeiten inzwischen selbst ganz gut klar. Ich vermute aber, dass andere sich eher schwer damit tun. Das hat mich zu diesem Titel geführt. Meine Erfahrung ist, dass sich Menschen, die solche Dinge als Blödsinn abtun, es trotzdem ertragen können, wenn es als ‚Hui-Buh‘ verpackt wird. Entwickelt hat sich dieser Begriff in einer Jugendhilfeeinrichtung, in der ich jahrelang arbeitete. Wir hatten dort jede Menge Hui-Buh und sowohl die Kids als auch die Koordination und KollegInnen kamen besser damit klar, wenn wir es so benannten. Die Botschaft dahinter war: „Müsst ihr nicht verstehen… funktioniert, also lasst uns mal machen.“

      1. Upps, die Mutmassung sollte nicht übergriffig wirken. Entschuldige bitte. Nach der Insider-Begründung wird deine Titelwahl natürlich einsichtig.

      2. Halt, stopp! Ich habe Deine Äußerung kein Stück als übergriffig empfunden. Du kannst Dich entspannen 🙂

        Und das mit dem ‚hau raus, wenn Du was Treffenderes weißt‘ war ganz ernst gemeint.

  3. ein schöner Text. Tiere sind, wenn sie es einmal ins Menschenherz geschafft haben, für immer dort und leben weiter in Trauer und Fröhlichkeit. Mein Tito, ein kleiner Jagdhund, ging auch nach 14 gemeinsamen Jahren vor vier Jahren von uns. „Tito ist tot“ vom 28.Juni 2020. Jetzt liegt eine noch junge Katze auf meinen Knien. Fritzi. Möge dein Tolstoi noch lange in deinem Herzen leben.

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