Omis Geschenk

Heute ist der von mir lang herbeigesehnte Tag, an dem Christiane von Irgendwas ist immer eine neue Wortspende veröffentlicht. Wie immer gilt für die daraus entstehenden Texte, dass sie 300 Wörter nicht überschreiten dürfen und alle Worte eingebaut werden müssen. Dies sind die für den April: Fingerhut – süßlich – fluchen. Dann mal ran!

Von meinem Großvater habe ich das Sehen gelernt. Als kleines Kind, stets an seiner Seite, durfte ich an allem teilnehmen, was ihn bewegte und interessierte. Während stundenlanger Spaziergänge lernte ich, die Welt mit seinen Augen zu sehen und den sinnvollen Gebraucht einer kleinen, aus einer Postkarte zugeschnittenen Passepartouts, um einen Bildausschnitt zu wählen, den er sehr fein und mit virtuosem Schwung aufs Papier warf. Das waren glückliche Zeiten meiner frühen Kindheit.

Meine Omi wurde für mich eigentlich erst sichtbar, als mein Großvater gestorben war. Da konnte sie aus seinem Schatten heraustreten. Von ihr lernte ich noch einmal einen anderen Blick auf die Welt. Einen sanfteren, erdigeren. Sie liebte das Gärtnern und nie habe ich sie über irgendein Unkraut fluchen hören. Mit Geduld und Hingabe gestaltete sie ihre Gärten. Wildes und gezähmtes wuchsen friedvoll nebeneinander und ergänzten sich aufs Allerschönste. Gerade Linien in ihren Beeten waren ihr fremd. Kommen und bleiben durfte, was mit den anderen in Eintracht wuchs und erblühte. Von Omi lernte ich auch, die verschiedenen Pflanzen zu unterscheiden, all ihre Düfte wahrzunehmen: die würzigen, scharfen, zusammenziehenden, holzigen, zitronigen feinen, die frischen und die muffigen, und die süßlichen (die wir beide nicht so sehr mochten) mit all ihren Wirkungen auf das menschliche Gemüt. Der Fingerhut, den es in jedem ihrer Gärten gab, war ihr Liebstes. Und so ist er es heute auch mir. Ich liebe ihn in seiner Vielgestalt. Am liebsten, wenn ich ihm in seiner wilden Form wachsend in der Natur begegne. Stundenlang kann ich mich vor ihn setzen und beobachten, wie Bienen und Hummeln in seinen Blütentrichtern verschwinden, um sich an seinem Nektar zu laben. Und dann wird das Herz mir weit, als säße meine Omi neben mir. Ich fühle mich geliebt.

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Danke, für diese Wortspende! Noch ist keine Fingerhutzeit. Aber darüber schreiben zu können, hat mir jetzt ganz überraschend fühlbar die Liebe meiner Großmutter als Geschenk gebracht.

11 Gedanken zu “Omis Geschenk

  1. Was für ein Geschenk, was für ein wunderbarer Nebeneffekt meiner Wortspende, dass du eine Hommage an deine*n Oma und Opa schreibst. Danke dir sehr dafür – und natürlich auch für deine erste Etüde des neuen Durchgangs. Bin gespannt, wie viele es dieses Mal werden 😉
    Herzliche Nachmittagskaffeegrüße 🌤️🌱🦋☕🍪

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